Dass Krisen eine Chance sein können, ist eine Weisheit, die sich in der Geschichte immer wieder bestätigte. Das Sprichwort „Not macht erfinderisch“, auch. Aus Mangel, Not und Unsicherheit heraus entstehen auch immer neue Fähigkeiten, Erkenntnisse und Angewohnheiten. Erfreulicherweise lese und erlebe ich in unserer Dauer-Krise auch viel Positives. Was die Menschen jetzt für sich mitnehmen, wird diese Zeit ganz sicher überdauern.
Was aber heißt das heute konkret? Dazu führte ich bei Twitter eine Umfrage durch, deren Antworten auch mir viele positive Impulse brachten, dazu gute Energie und neue Ideen. Was mich sehr freute - ermutigt es doch, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen und sich über das Gefühl der Ausweglosigkeit hinwegzusetzen. Und Ermutigung brauchen wir alle gerade, denke ich.
Was haben die Leute über sich selbst gelernt?
Manche erkannten, sie sind kein „Herdentier“ und können gut alleine sein. Freundschaft wurde dafür umso mehr geschätzt, vielleicht auch, weil die Meinungskämpfe teils immer verbissener werden. Kontaktbeschränkungen führen natürlicherweise zum Wunsch, sich mit Menschen zu treffen. Diese Begegnungen werden mehr genossen als zuvor, da nicht mehr selbstverständlich. Ich habe im letzten Jahr viele liebenswerte, interessante Menschen kennengelernt und genieße den Austausch, der sich über Meinungsgrenzen hinwegbewegt. Viele haben in der letzten Zeit den Frieden mit sich gemacht, und schrieben, sie können sich selbst nun besser leiden, nehmen sich gleichzeitig aber nicht mehr zu wichtig.
Bescheidenheit in einer Zeit, in der noch Anfang letzten Jahres vieles was selbstverständlich erschien, plötzlich wegbrach, bringt auch eine gewisse Ruhe mit sich. Andere treiben viel Sport und stärken ihre Kondition. Ich selbst war auch vorher nicht im Fitnessstudio, aber achte viele mehr auf regelmäßige Bewegung, seien es Gymnastik oder stundenlange Spaziergänge. Seit mehr Termine, Shoppingtrips und Wege wegfallen, merke ich umso mehr, wie wichtig Bewegung ist, wenn sie nicht mehr automatisch in den Alltag integriert ist.
Kreative starteten youtube-Kanäle, Blogs oder äußern sich vermehrt in den sozialen Medien, um ihren Gedanken Luft zu machen und um andere, Gleichgesinnte, zu finden und anzusprechen. Manche sprachen in dem Zusammenhang auch von Eigentherapie, einer Art von offenem Tagebuch, wenn sie ihre Gedanken, ihr Wissen oder ihre Kunst öffentlich präsentieren.
Als die Geschäfte zu hatten und die Fußgängerzonen verwaisten, merkten viele, dass es auch ohne Shoppingtouren und Restaurantbesuche geht. Im Zeitalter des Konsums wird vermehrt von diesem weggegangen; zumindest die Verbindung mit Geselligkeit entfällt - man bestellt eher online. Ob das jetzt besser oder schlechter ist, ist sicher eine Frage des Geschmacks. Wer aber die eingesparte Zeit nutzt um nachzudenken, gewinnt auch neue Perspektiven. „Ich kann mittlerweile gut allein sein“ – deutet auf genau diese Entwicklung hin. Wer sich an seiner eigenen Gesellschaft nicht stört, ist mit sich selbst im Einklang.
„Ich habe gelernt, mich auch über kleine Dinge zu freuen. Intensiver zu sehen und zu fühlen“ – mit dieser Aussage kann ich mich gut identifizieren. Die plötzliche Ausnahmesituation hat mich viel empfänglicher für Energien, Außenreize, für mich selbst und andere gemacht. Erklären kann ich es nur so, als sei man plötzlich „wachgerüttelt“.
„Ich habe -leider zu spät - eingesehen, dass mein Großvater kein Spinner und Verschwörungstheoretikern war, sondern Realist.“
Die Erkenntnisse über Mitmenschen sind vielschichtig.
Viele äußerten sich ernüchtert, sprachen davon, dass sie viele als kritiklose Mitläufer in einem System wahrnehmen, das sie selbst mit Sorge betrachten. Auch jenseits meiner Umfrage nehme ich ähnliche Äußerungen wahr.
„Die Spreu trennt sich vom Weizen“ liest und hört man öfters dieser Tage.
Was genau jemand damit meint, ist sicher individuell. Andere stellten fest, dass die „wenigsten Menschen mit persönlicher Freiheit etwas anzufangen wissen“. Viele haben mehr über Öffentlichkeitsarbeit gelernt und den Umgang miteinander in den sozialen Medien; auch, wie boshaft – gerade in der Anonymität- fremde Menschen sein können. Der Ton ist um einiges rauer geworden; umso wichtiger in der Kommunikation ist die Differenzierung zwischen den eigenen Gefühlen, Fakten, dem Gegenüber und sich selbst.
Schön, wie viele positive Überraschungen es auch gab: Helmut Schmidts kluge Worte „In der Krise zeigt sich der Charakter“ stimmen in jeder Hinsicht – und viele haben sich als empathisch, rücksichtsvoll und flexibel erwiesen, von denen ich es nicht gedacht hätte. Andere, die gerade bei Twitter jahrelang durch eine fast ölig-oberflächliche Freundlichkeit, blumige Sprache und scheinbare Harmoniebekundungen auffielen, zeigen plötzlich offen ihre Aggressionen und hetzen gegen jeden, der ihr übernommenes Weltbild anzweifelt und damit ins Rütteln bringt.
Neue Fähigkeiten im Alltag
Weiterbildung und Selbstbildung? Aber gerne! Eine Leserin hat sich während des Lockdowns um ihre Bildung gekümmert und macht ein paar neue Examen - nicht weil sie diese bräuchte, sondern aus Neugier, um zu schauen, wie sie dabei abschneidet. Manche lernen Instrumente, z.B. Querflöte. Das selbständige Weiterbilden und Lernen in jeder Hinsicht hilft auch, um nicht die ganze Zeit in Grübeln und Hoffnungslosigkeit zu verfallen.
Arbeit im Homeoffice war für viele eine ganz neue Erfahrung; die einen kommen damit klar, andere eher nicht. Die meisten wünschen sich diese Arbeitsform aber weiterhin, zumindest als Option, sofern es der Berufszweig erlaubt.
Haareschneiden können jetzt viele, und das habe ich selbst auch gelernt – hätte ich wirklich nie für möglich gehalten! Ein Set für knapp 20 EUR war schnell gekauft und mit ein bisschen Übung weiß ich: Ich gehe nie wieder zum Friseur, da ich dort -ganz frauenuntypisch- ohnehin stets angespannt war und mich nie wirklich wohlfühlte in Salons mit Scherengeklapper, Geschnatter und strengem Haarspraygeruch.
Auch Backen steht jetzt hoch im Kurs bei Leuten, die sich ihre Einkäufe nun für längere Zeit einteilen. Auf dem Land lebend, in Ermangelung guter Bäcker, tue ich dies schon lange. Gärtnern wurde auch zum neuen Hobby - die Natur erleben und genießen als Ort der Ruhe und echter Harmonie spendet Kraft und erdet – buchstäblich.
Die Zeit des Umbruchs regt an zu philosophieren.
Viele machen sich heute mehr Gedanken über die Welt, in der sie leben:
„Ich habe gelernt, dass vieles nicht ist, wie es vordergründig erscheint und dass Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Schule zu kurz kommt.“, „Freiheit ist ungleich Konsum.“
Mit ständiger Unsicherheit zu leben wurde Alltag:
„Ich kann Urlaub buchen und 12 Stunden später gibt es einen Lockdown in diesem Land…“. Andere beklagen vollständigen Vertrauensverlust in den Staat.
„Ich habe gelernt wie zerbrechlich Demokratie und Freiheit sind.“ Werte, die wir für selbstverständlich hielten, schwanken.
Eine Erkenntnis, die ich selbst gewonnen habe, beschrieb eine Person sehr treffend:
„Nichts aufschieben in der Hoffnung, dass es nächstes Jahr besser wird, sondern Dinge tun, solange sie noch möglich sind…“
Das versuche ich täglich in die Tat umzusetzen. So wird jeder Tag zu einer besonderen Aufgabe, jenseits von Alltagstrott und Selbstverständlichkeit.
Wir haben diese Krise nicht verursacht, aber wir können lernen, damit umzugehen. Um möglichst unbeschadet und stärker daraus hervorzugehen. Ich persönlich habe gelernt, jeden Tag als kleine Einheit zu betrachten. Jeder Tag hat eine ganz bestimmte Stimmung und Atmosphäre, neue Gedanken, Gefühle, Erfolge und innere Auseinandersetzungen, die mich am Ende weiterbringen. Ich setze mir mehr Ziele als vorher, bin gleichzeitig aber auch geduldiger geworden.
Eigenverantwortung ist mein wichtigstes Stichwort in dieser Zeit.
Nur so kommen wir als Gesellschaft wieder auf einen guten Weg. Je wackeliger es wird, sich auf Gegebenheiten im Außen zu verlassen, desto mehr vertraue ich –zwangsläufig- mir selbst. Und dazu möchte ich auch andere ermutigen, denn es lohnt sich.
Das wusste auch Wilhelm Busch:
„Früher, da ich unerfahren
Und bescheidner war als heute,
Hatten meine höchste Achtung
Andre Leute.
Später traf ich auf der Weide
Außer mir noch andre Kälber,
Und nun schätz' ich, sozusagen,
Erst mich selber.“
Titelbild: pixabay/geralt
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